Victor Klemperer

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Victor Klemperer am 2. Oktober 1954 als Kandidat zur Wahl der Volkskammer

Victor Klemperer (* 9. Oktober 1881 in Landsberg an der Warthe; † 11. Februar 1960 in Dresden) war ein deutscher Romanist und Politiker. Zu seiner Bekanntheit über die Fachgrenzen hinaus trugen neben seiner Abhandlung LTI – Notizbuch eines Philologen (Lingua Tertii Imperii: Sprache des Dritten Reiches) vor allem seine ab 1995 unter dem Titel Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten (1933–1945) herausgegebenen Tagebücher bei, in denen er akribisch seine Alltagserfahrungen im Zeichen der Ausgrenzung als intellektueller protestantischer Konvertit jüdischer Herkunft aus der deutschen Gesellschaft in der Zeit des Nationalsozialismus dokumentierte. Darüber hinaus vermitteln die Bände Curriculum Vitae (1881–1918), Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum (1918–1932) und So sitze ich denn zwischen allen Stühlen (1945–1959) ein intensives Bild von Klemperers Blick auf die Zeit des Deutschen Kaiserreichs, der Weimarer Republik sowie der Deutschen Demokratischen Republik. Klemperer kann damit als einer der wichtigsten Chronisten des Lebens eines Überlebenden der antisemitischen Verbrechen der deutschen Nationalsozialisten gelten; daneben aber auch als Zeitzeuge der Jahre vor und nach der Zeit des Nationalsozialismus. 1950 zog er als Abgeordneter des Kulturbunds der DDR in die Volkskammer ein.

Leben

Victor Klemperer, Vetter des Dirigenten und Komponisten Otto Klemperer sowie Onkel des deutsch-amerikanischen Schauspielers Werner Klemperer, war das achte und jüngste Kind von Wilhelm Klemperer und seiner Ehefrau Henriette, geb. Frankel. Victor hatte drei Brüder und vier Schwestern:

Georg, 1865–1946, Arzt, Direktor des Krankenhauses Berlin-Moabit

Felix, 1866–1932, Arzt, Direktor des Krankenhauses Berlin-Reinickendorf

Margarete (Grete), 1867–1942, verh. Riesenfeld

Hedwig, 1870–1893, verh. Machol

Berthold, 1871–1931, Rechtsanwalt

Marta, 1873–1954, verh. Jelski

Valeska (Wally), 1877–1936, verh. Sußmann

Klemperers Vater war zunächst in Landsberg und später in der jüdischen Reformgemeinde in Berlin Rabbiner. Das Französische Gymnasium Berlin verließ Victor Klemperer ohne Abschluss, um eine kaufmännische Lehre zu beginnen, die er jedoch nicht zum Abschluss brachte. Im Jahr 1902 holte er in Landsberg an der Warthe das Abitur nach und studierte dann Philosophie, Romanistik und Germanistik in München, Genf, Paris und Berlin. Er beendete dieses Studium aber ohne Examen oder Promotion. Am 16. Mai 1906 heiratete er die Konzertpianistin und Malerin Eva Schlemmer. Von 1905 bis 1912 arbeitete er als freier Publizist in Berlin. Im Jahr 1912 nahm er sein Studium wieder auf und konvertierte im selben Jahr zum Protestantismus. Die Promotion, eine Arbeit über die Zeitromane Friedrich Spielhagens, beendete er bereits 1912, im Jahr 1914 folgte die Habilitation. Von 1914 bis 1915 arbeitete Klemperer als Lektor an der Universität Neapel und meldete sich anschließend als Kriegsfreiwilliger. Vom Winter 1915 bis Frühjahr 1916 war er als Artillerist an der Westfront eingesetzt, später bei der Militärzensur als Buchprüfer in Kowno und Leipzig. Im Jahr 1920 wurde er als Professor für Romanistik an die Technische Hochschule Dresden berufen.

Im Jahr 1935 wurde Klemperer auf Grund des nationalsozialistischen Reichsbürgergesetzes unter Federführung des Gauleiters Martin Mutschmann aus seiner Professur an der TH Dresden entlassen. Er konzentrierte sich hiernach auf die im Juli 1933 begonnene Arbeit zur Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert, die erst nach dem Krieg in zwei Bänden 1954 und 1966 erschien. Als dann den nach den nationalsozialistischen Rassengesetzen als Juden Geltenden auch der Zugang zu Bibliotheken und das Abonnieren von Zeitungen und Zeitschriften verboten wurde, waren ihm die Hände gebunden, und er musste diese wissenschaftliche Arbeit vorläufig einstellen. Umso intensiver widmete er sich seinen Tagebüchern und begann 1938 die Arbeit an seiner Vita. Während der Kriegsjahre legte er mit seinen Tagebuchaufzeichnungen die Grundlage für seine spätere Abhandlung zur Sprache des Dritten Reiches, der „LTI“ (Lingua Tertii Imperii). Diese Tagebuchnotizen führte Klemperer als Loseblattsammlung, die er in regelmäßigen Abständen durch seine Frau bei einer Freundin, der Ärztin Dr. Annemarie Köhler, in Pirna, verstecken ließ, da eine Entdeckung durch die Gestapo bei den permanent drohenden Hausdurchsuchungen fatale Folgen gehabt hätte.

Nachdem er 1940 aus seinem erst 1934 bezogenen Haus in Dölzschen bei Dresden vertrieben wurde, lebte er mit seiner Frau in verschiedenen „Judenhäusern“ in Dresden. Die Luftangriffe auf Dresden in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 überstand das Paar mit geringen Verletzungen und entkam der drohenden Deportation.

„Am Abend dieses 13. Februar brach die Katastrophe über Dresden herein: die Bomben fielen, die Häuser stürzten, der Phosphor strömte, die brennenden Balken krachten auf arische und nichtarische Köpfe, und derselbe Feuersturm riß Jud und Christ in den Tod; wen aber von den etwa 70 Sternträgern diese Nacht verschonte, dem bedeutete sie Errettung, denn im allgemeinen Chaos konnte er der Gestapo entkommen.“

– Zitat aus „LTI“

Nach einer mehrmonatigen Flucht durch Sachsen und Bayern kehrten die Klemperers im Juni 1945 nach Dresden und schließlich in ihr Haus in Dölzschen zurück. Die folgenden Monate, in denen Klemperers berufliche Zukunft weiterhin unsicher blieb, nutzte er zur Niederschrift seines Buches „LTI“, das 1947 erschien.

Klemperer entschied sich gegen eine Übersiedlung in die Westzonen, er blieb in der Sowjetischen Besatzungszone und engagierte sich beim Aufbau der DDR. Eva und Victor Klemperer traten nach kurzem Zaudern der KPD bei und zählten alsbald im weitesten Sinne zur politischen Elite in Dresden, auch wenn Klemperer den Marxismus nicht unkritisch sah.[1]

Von 1947 bis 1960 war Klemperer an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und zuletzt an der Humboldt-Universität zu Berlin tätig. Hier gehörten zu seinen bekannten akademischen Schülern Rita Schober, die auch seine Nachfolgerin wurde, sowie die Romanisten Horst Heintze, Johannes Klare und Hans-Otto Dill.

Im Jahr 1950 wurde er als Vertreter des Kulturbundes Abgeordneter der Volkskammer der DDR sowie ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften und bemühte sich, der französischen Sprache eine angemessene Stellung in der DDR einzuräumen.

Nach dem Tod von Eva Klemperer (1882–1951) heiratete Klemperer 1952 die 45 Jahre jüngere Germanistin Hadwig Kirchner, die nach Klemperers Tod an der Herausgabe seiner Tagebücher mitwirkte. Victor Klemperer starb am 11. Februar 1960 im Alter von 78 Jahren. Seine Grabstelle befindet sich auf dem Friedhof Dölzschen. Hadwig Klemperer starb 2010 in Dresden.

Auszeichnungen, Ehrungen und Gedenken

1951: Ehrenpromotion Dr. paed. h. c. durch die Technische Hochschule Dresden anlässlich des 70. Geburtstages

1952: Nationalpreis der DDR III. Klasse für Kunst und Literatur

1956: Vaterländischer Verdienstorden in Silber

1960: F.-C.-Weiskopf-Preis der Akademie der Künste zu Berlin (postum)

1995: Geschwister-Scholl-Preis der Stadt München (postum), mit Laudatio von Martin Walser

Am 4. Dezember 1996 wurde das Volkshochschulkolleg in Berlin-Marzahn in Anwesenheit von Klemperers Witwe in Victor-Klemperer-Kolleg umbenannt.

Der Victor-Klemperer-Wettbewerb, ein Jugendwettbewerb für Demokratie und Toleranz des Bündnisses für Demokratie und Toleranz, wurde 2000 nach ihm benannt.

Am 15. Juli 2014 wurde vor dem ehemaligen Wohnhaus der Klemperers in Dresden-Dölzschen, Am Kirschberg 19, eine Gedenkstele enthüllt. Mit diesem inzwischen sechsten Denkzeichen in Dresden will die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Dresden an jüdisches Leben in der Stadt und die Verfolgung und Demütigung der Juden im nationalsozialistischen Deutschland erinnern.

Gedenktafel am Haus, Dorotheenstraße 1, in Berlin-Mitte und Weimarische Straße 6a in Berlin-Wilmersdorf.

Tagebuch

Im ausführlichen Tagebuch zeigt sich Klemperer als genauer und kritischer, aber auch selbstkritischer Beobachter seiner Zeit und seines Milieus. Während der Zeit der Weimarer Republik betrafen Klemperers Beobachtungen vorwiegend seine wissenschaftliche Karriere und die zahllosen Intrigen an der Universität, beispielsweise die Konkurrenz zu Ernst Robert Curtius. Weiter schrieb er viel über die Beziehung zu seiner ersten, oft kränklichen Frau Eva, beschrieb Personen und Landschaften, notierte auch eifrig die häufigen Kinobesuche. Aufmerksam verfolgte er sein eigenes gesundheitliches Befinden und die Fortschritte seines wissenschaftlichen Schreibens. Häufig wurde er von Selbstzweifeln heimgesucht. Klemperer äußerte sich offen über die Probleme seiner Existenz als konvertierter Jude und vermerkte den nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs im Zusammenhang mit der Dolchstoßlegende und den Wirren um die bayrische Räterepublik virulent um sich greifenden Antisemitismus.

Ab 1933 lässt sich mitverfolgen, wie Klemperer langsam und systematisch ausgegrenzt wurde, zunächst in der Wissenschaft, später auch im privaten Leben. Seine Tagebücher aus der Zeit des Nationalsozialismus sind Zeugnis einer Atmosphäre großer und immer größer werdender Angst, in der Klemperer und die anderen Bewohner des „Judenhauses“ lebten: vor allem Angst vor der Gestapo. Vor diesem Hintergrund berichtete er von etlichen Selbstmorden und Opfern des Völkermordes an den Juden durch die Nationalsozialisten in seinem persönlichen Umfeld. Gegenüber den häufigen Notizen über antisemitische Äußerungen während der Weimarer Republik vermerkte Klemperers Tagebuch aber eine trotz oder wegen der offiziellen antisemitischen Politik zunehmende Höflichkeit der nichtjüdischen Bevölkerung gegenüber den durch den gelben Stern stigmatisierten Juden – eine Höflichkeit, die natürlich in Bezug auf die Vernichtungspolitik folgenlos blieb.

Die Tagebücher wurden ab 1995 im Aufbau-Verlag veröffentlicht und wurden zum Bestseller. Die Tagebücher der Jahre 1933 bis 1945 gelten heute als wichtiges Dokument der Zeitgeschichte und sind Standardwerke für den Geschichts- und Deutschunterricht. Auch die Tagebücher aus der Weimarer Republik und aus der Zeit nach 1945 zeigen Klemperer in der Rolle des Beobachters, der auch nicht davor zurückscheut, den eigenen Ehrgeiz oder die „lingua quarti imperii“ (LQI – den Jargon der neuen kommunistischen Machthaber) kritisch zu thematisieren. Eine ungekürzte und umfangreich kommentierte Fassung der Tagebücher 1933 bis 1945 erschien 2007 auf CD-ROM.

Werke

Veröffentlichungen zu Lebzeiten

Paul Lindau. Berlin 1909.

Die Zeitromane Friedrich Spielhagens und ihre Wurzeln. Weimar 1913.

Idealistische Neuphilologie. (Festschrift für Karl Vossler zum 6. September 1922, mit Eugen Lerch) Heidelberg 1922.

Die moderne französische Prosa 1870–1920. Leipzig 1923.

Romanische Literaturen von der Renaissance bis zur Französischen Revolution. (Mit Helmut Hatzfeld und Fritz Neubert – Handbuch der Literaturwissenschaft, Hg. von Oskar Walzel) Potsdam 1924.

Jahrbuch für Philologie. (Mit Eugen Lerch). München 1925 und 1927

Die moderne französische Literatur und die deutsche Schule. Drei Vorträge. Leipzig 1925.

Stücke und Studien zu modernen französischen Prosa. Leipzig 1926.

Romanische Sonderart. Geistesgeschichtliche Studien. München 1926.

Pierre Corneille. (Epochen der französischen Literatur). München 1933.

Die französische Literatur von Napoleon bis zur Gegenwart. 4 Bde., Berlin 1925–31 (Neuausgabe 1956 unter dem Titel Geschichte der französischen Literatur im 19. und 20. Jahrhundert).

LTI – Notizbuch eines Philologen. Berlin, 1947 (Ausgabe beim Reclam Verlag Leipzig, ISBN 3-379-00125-2).

Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert. Bd. 1: Berlin, 1954, Bd. 2: Halle 1966.

Aus dem Nachlass

Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert. Band II: Das Jahrhundert Rousseaus. Halle 1966.

Curriculum Vitae. Erinnerungen 1881–1918. (Band I–II). Berlin 1996, ISBN 3-7466-5500-5.

Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum. Tagebücher 1919–1932. Berlin 1996, ISBN 3-351-02391-X.

„Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten.“ Tagebücher 1933–1945. (Band I–VIII). Berlin 1995, ISBN 3-7466-5514-5.

Und so ist alles schwankend – Tagebücher Juni–Dezember 1945. Berlin 1996, ISBN 3-7466-5515-3.

So sitze ich denn zwischen allen Stühlen. Tagebücher 1945–1959. (Band I–II). Berlin 1999, ISBN 3-351-02393-6.

Das Tagebuch 1933–1945. Eine Auswahl für junge Leser. Bearbeitet von Harald Roth. Aufbau-Taschenbuch 5516, Berlin 1997, ISBN 3-7466-5516-1.

Victor Klemperer: Die Tagebücher 1933–1945. Kritische Gesamtausgabe. CD-ROM. Berlin 2007, ISBN 978-3-89853-550-2.

„Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten.“ Tagebücher 1933–1945. Eine Auswahl. Berlin 2007, (SpiegelEdition 23) ISBN 978-3-87763-023-5.

Man möchte immer weinen und lachen in einem. Revolutionstagebuch 1919. Aufbau Verlag, Berlin 2015, ISBN 978-3-351-03598-3. als Hörbuch gelesen von Burghart Klaußner. Aufbau Audio, Berlin 2015.

Wohnadresse in Berlin: Albrechtstraße 20 (Mitte), Weimarische Straße 6a in Wilmersdorf.


Text: Wikipedia

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Bild: Wikimedia/Bundesarchiv/Bild 183-26707-0001/Höhne, Erich; Pohl, Erich

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