Otto John

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Treffen von Dr. Otto John, am 5.8.1954 im Café Warschau mit dem Präsidenten des Nationalrates, Prof. Dr. Correns und dem Architekten der Stalinallee Prof. Henselmann.

Otto John (* 19. März 1909 in Marburg; † 26. März 1997 in Innsbruck) war von 1950 bis 1954 der erste Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz in der Bundesrepublik Deutschland. In Anbetracht dieser herausragenden Stellung im westdeutschen Nachrichtendienst verursachte sein Auftauchen in der DDR im Juli 1954 einen der größten politischen Skandale in der frühen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.


Der Fall Otto John

Am 20. Juli 1954 fand im Bendlerblock erstmals (wie viele meinen, im Zusammenhang mit der Wiederbewaffnung) eine öffentliche Gedenkfeier der Bundesregierung für die Mitglieder des Widerstandskreis des 20. Juli 1944 statt, an der auch Otto John teilnahm. Am Abend des gleichen Tages fuhr John mit Wolfgang Wohlgemuth nach Ost-Berlin. Wohlgemuth war ein Arzt mit zweifelhaftem Leumund, den John in der NS-Zeit kennen gelernt hatte. Er arbeitete damals – vermutlich ohne Johns Wissen – für den sowjetischen Geheimdienst KGB. Vermutlich wurde er von Max Wonsig, ebenfalls KGB-Agent, während der Fahrt betäubt. Ziel der Fahrt war ein mit dem KGB-Mitarbeiter Oberst Karpow alias Dr. Schneider vereinbarter Treffpunkt vor der Charité.

Eine 2009 erschienene Arbeit von Klaus Schaefer weist nach, dass John das Opfer einer Entführung wurde (wie dies zunächst von Bundesinnenminister Gerhard Schröder und nach Johns Rückkehr in die BRD von ihm selbst behauptet wurde). Einige Historiker vertreten immer noch die Ansicht, dass John freiwillig in die DDR ging, wie von ihm am 23. Juli und am 28. Juli in Radio DDR und auf einer Pressekonferenz am 11. August erklärt wurde. Diesen unter Zwang abgegebenen Erklärungen kommt aber keine Beweiskraft zu.

In diesem Zusammenhang schreibt der Historiker Erik Gieseking 2005:

„Was am Abend des 20. Juli 1954 geschehen ist, wird wohl nur eindeutig zu klären sein, wenn neue Quellen zur Verfügung stehen. Die Aussagen zu den Ereignissen sind äußerst widersprüchlich; die Spannbreite reicht von Flucht über Entführung, Kurzschlußhandlung oder Falle bis hin zu Johns eigener Erklärung, daß er entführt und im Osten unter Zwang festgehalten wurde. In diesem Falle stellt sich immer noch die Frage, ob das Festhalten Johns auf einer spontanen Entscheidung der östlichen Geheimdienste beruhte oder ob es sich tatsächlich um eine von langer Hand geplante Falle handelte.“

Seinen vermeintlich freiwilligen Übertritt in die DDR begründete John selbst z. B. bei der Pressekonferenz in Ost-Berlin mit der Kritik an Bundeskanzler Adenauer, dessen Politik der Remilitarisierung und Westbindung das Ziel der deutschen Einheit gefährde, folgendermaßen:

„Ich habe mich nach reiflicher Überlegung entschlossen, in die DDR zu gehen und hier zu bleiben, weil ich hier die besten Möglichkeiten sehe, für eine Wiedervereinigung und gegen die Bedrohung durch einen neuen Krieg tätig zu sein.“

Außerdem klagte er den wieder wachsenden Einfluss früherer Nationalsozialisten in der Bundesrepublik an; namentlich nannte er Bundesvertriebenenminister Theodor Oberländer und Reinhard Gehlen, den Präsidenten des Bundesnachrichtendiensts und früheren Chef der „Abteilung Fremde Heere Ost” der Wehrmacht.

John wurde daraufhin vom 24. August bis 12. Dezember 1954 von KGB-Offizieren in Moskau mehrfach verhört, was allerdings für die Sowjetunion nicht sehr ergiebig war. Kopien der Protokolle dieser Verhöre wurden damals dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR überlassen. Nachdem er vier Monate lang in Moskau verhört worden war, stellte ihm die DDR zwei komfortable Wohnungen und ein Büro und John nahm – ständig unter Bewachung – eine politische Tätigkeit auf, während der er in vielen Vorträgen und Veröffentlichungen die erwähnten Vorwürfe gegen die BRD wiederholte.

Am 12. Dezember 1955 setzte sich John mit Hilfe des dänischen Journalisten Henrik Bonde-Henriksen wieder von Ost- nach West-Berlin ab, wo er am 22. Dezember verhaftet wurde. In der Bundesrepublik wurde er wegen Landesverrats angeklagt – was ihn anscheinend überraschte – und vom Dritten Senat des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe am 22. Dezember 1956 zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Karl Richard Albert Wittig, einer der Hauptbelastungszeugen im Verfahren, flüchtete Ende Februar 1962 in die DDR, nachdem gegen ihn selbst ein Ermittlungsverfahren wegen Meineides eingeleitet worden war. Am 27. Juli 1958 wurde John von Bundespräsident Theodor Heuss begnadigt und vorzeitig aus der Haft entlassen. Er zog in der Folge mit seiner Ehefrau Lucie, einer Gesangspädagogin, nach Innsbruck-Igls, wo er die ehemalige Feste Hohenburg bewohnte.

Nach seiner Freilassung bemühte sich John bis an sein Lebensende vergeblich um seine Rehabilitierung, indem er darstellte, er sei nach Verabreichnung eines Betäubungsmittels, unter Beteiligung des Arztes Dr. Wolfgang Wohlgemuth, in den Ostsektor verschleppt worden. Seine Auftritte vor der Weltpresse seien zur Täuschung der Umgebung erfolgt, welche ihm schließlich später die Flucht ermöglichte. Prominente Politiker wie Herbert Wehner, Willy Brandt und Franz Josef Strauß setzten sich für eine Wiederaufnahme des Prozesses ein. Sein früherer Chef beim Soldatensender Calais, Sefton Delmer, widmete John im 1962 erschienenen zweiten Teil seiner Memoiren Die Deutschen und ich zwei Kapitel (60 und 62), in denen er John als Märtyrer präsentiert, der als Überlebender des Widerstandes gegen Hitler bei den tonangebenden Politikern und Beamten jener Zeit zum „Prügelknaben” und „ersten Opfer des Vierten Reichs” geworden sei.

Der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker gewährte ihm 1986 eine Sonderrente („Gnadenunterhaltsbeitrag”) von 4200 DM monatlich, „um mit den bescheidenen Mitteln, die meinem Amt zur Verfügung stehen, einen Schlussstrich zu ziehen“.

Aufgrund der mittlerweile zugänglichen Akten des Staatssicherheitsdienstes, die Bernd Stöver 1999 vorgestellt und kommentiert hat, weiß man heute mit großer Sicherheit, dass John offenbar nicht vorsätzlich dazu beigetragen hat, Dienstgeheimnisse und Amtsinterna verfügbar zu machen. Eine Offenlegung von Staatsgeheimnissen ist letztendlich nicht nachweisbar:

„Manche dieser Einzelinformationen, die John gab, waren der Staatssicherheit oder dem KGB wahrscheinlich nicht neu. Aber selbst wenn einzelne Details für sich betrachtet nur geringe Aussagekraft besaßen, zusammen mit den Ergebnissen anderer Verhöre oder ansonsten erworbener Erkenntnisse gewannen sie wohl doch Relevanz. Nicht umsonst bewahrte das MfS, wie andere Geheimdienste auch, fast alle Vorgänge über Jahrzehnte auf. Aber John tat eben mehr. Viele seiner Aussagen mit Namensnennungen ließen Kontaktaufnahmen zu, boten Anhaltspunkte, auf welche Weise Fühlungnahmen mit Personen möglich waren, sie verdeutlichten persönliche Schwächen und politische Einstellungen von Agenten. Ob John sich dieser Tatsache bewußt war, ist schwer zu sagen. In seinen Memoiren und sonstigen Äußerungen nach seiner Rückkehr ging er jedenfalls nicht darauf ein.“

Der Politikwissenschaftler Hartmut Jäckel kommt aufgrund der inzwischen vorliegenden Stasi-Unterlagen zu folgendem Schluss:

„Gewichtige Indizien besagen: Der Geheimnisträger Otto John hat sich am 20. Juli 1954 freiwillig zu Gesprächen nach Ost-Berlin begeben. Innerlich bewegt von einem naiv-patriotischen Impetus, der deutschen Einheit auf eigene Faust voranzuhelfen, hat er nicht damit gerechnet, dass ihm die Rückkehr in den Westteil Berlins verlegt werden könnte. Als ihm dies bewusst wurde, mag er geglaubt haben, einen groben Fehler durch einen noch gröberen korrigieren zu können.“

Allerdings kommt Gieseking in seiner über 600 Seiten umfassenden Untersuchung von 2005 unter anderem zu folgendem Ergebnis:

„Aufgrund des bestehenden rechtsgültigen Urteils des Bundesgerichtshofes von 1956 kann es keinen Zweifel geben, daß Johns Schuld juristisch erwiesen ist. Doch über die Bewertung der Fakten kann man zu verschiedener Auffassung gelangen. Bislang gibt es keinen zugänglichen schlüssigen Beweis dafür, daß John freiwillig nach Ost-Berlin gegangen ist und daß er dort zum Verräter geworden ist. Alle dahingehenden Aussagen beruhen auf Indizien oder Zeugenaussagen. Das Gericht berücksichtigte Aussagen von Personen, die selbst wieder von John oder Dritten von der Freiwilligkeit des Übertritts erfahren haben wollten und dies während des Aufenthalts Johns in der DDR.“

Der Spiegel setzte sich 1958 unter dem Titel Politische Justiz – Billig verkauft mit dem Urteil des Bundesgerichtshofs auseinander und kritisierte im Detail die „schwer begreifliche Beweiswürdigung“ und die „dürren Argumente“ des Indizienurteils.

Der „Fall John“ löste in der damaligen Bundesrepublik eine schwere innenpolitische Krise aus, in deren Mittelpunkt der Bundeskanzler Konrad Adenauer und sein Innenminister Gerhard Schröder standen. Erstmals in der Nachkriegszeit wurde in der Öffentlichkeit u. a. die Frage diskutiert, inwiefern zwischen der ehemaligen Gestapo und dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) eine personelle Kontinuität bestehe.

Die in der obigen Darstellung von Gieseking vermissten neuen Quellen wurden von dem Juristen Schaefer erschlossen. Er konnte sich auf den Nachlass von Otto John im Imperial War Museum in London und Duxford, auf die Akten des Testamentsvollstreckers in Innsbruck, auf von der Besitzerin der Hohenburg auf dem Dachboden 2007 gefundene Akten, auf Verschlußsachen im Bundesarchiv Koblenz und auf noch bis 2016 gesperrte Akten im BfV und Interviews mit Zeitzeugen stützen. Das obige Zitat aus S. 261 Gieseking entsprach schon 2005 nicht der rechtlichen Lage. Das fünfte Wiederaufnahmeverfahren befand sich bei Johns Tod noch in der ersten Instanz beim Kammergericht Berlin; die Berufungsinstanz BGH hatte sich mit der zulässigen sofortigen Beschwerde noch gar nicht befasst. Die Einstellung des Verfahrens erfolgte ohne höchstrichterliche Entscheidung auf Antrag von Johns Verteidiger, weil die antragsberechtigte Schwester Johns nach dessen Tod keine Fortsetzung wünschte. Weitere Fehler, die sich auch bei Hartmut Jäckel und anderen finden, sind z. B. die Bezeichnung der riskanten Flucht Johns zurück in den Westen als „Absetzen“ [in den Geheimakten des Bundesamts für Verfassungsschutz befindet sich ein elf Seiten umfasssender genauer Bericht von Johns Nachfolger im BfV Hubert Schrübbers über die Vorbereitungen, falls die Flucht gelänge, einschließlich Absicherung am Brandenburger Tor]; das Datum der Verhaftung am 22. Dezember 1955 (obwohl John bereits am 12. Dezember nach geglückter Flucht in West-Berlin von einem Staatsanwalt in Empfang genommen wurde, der den Haftbefehl in der Tasche hatte).

Schaefer kommt deswegen zu folgendem Ergebnis: Die heutige Rechtslage wird dahingehend beurteilt, dass auf Grund der neuen Erkenntnisse in Verbindung mit Neubeurteilung früherer Beweise davon auszugehen ist, dass Otto John bei einer Wiederaufnahme des Verfahrens auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom BGH freigesprochen werden müsste. Der Wiederaufnahmeantrag durch die Staatsanwaltschaft ist möglich und erscheint geboten, um die Unschuld eines 1956 zu Unrecht Verurteilten postum rechtskräftig festzustellen.



Text: Wikipedia

Bild: Wikipedia/Bundesarchiv, Bild 183-25798-0002 / Heilig, Walter / CC-BY-SA

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